Endlich ist es soweit: Der Wander- oder Radurlaub in den Bergen ist nach einer gefühlten Ewigkeit des Wartens da. Damit der Traumurlaub nicht zu früh durch eine Verletzung oder Schmerzen der Gelenke endet, gibt es hier praktische Tipps von einer echten Expertin.
Silke Schön von alpintreff.de: Liebe Frau Dr. Diessner, ganz lieben Dank, dass Sie sich Zeit für unsere begeisterten Leserinnen und Leser nehmen! Sie sind Fachärztin für Physikalische und Rehabilitative Medizin, Sport- und Ernährungsmedizin, Manuelle Medizin, Naturheilverfahren – ein langer Titel mit sehr viel Erfahrung, oder?
Frau Dr. Meike Diessner: Für mich ist es seit Beginn meiner Facharztweiterbildung stets wichtig gewesen, über den Tellerrand hinauszuschauen, denn bei vielen, gerade chronischen Erkrankungen führt nicht immer die eine „Standardtherapie“ zum Erfolg. Das habe ich bereits früh in meiner Laufbahn erkannt. Bei meiner damaligen Tätigkeit in der Klinik für Manuelle Therapie, in der Patienten mit chronischen Schmerzen des Bewegungsapparates behandelt werden, habe ich gelernt, dass die besten Ergebnisse, speziell in der Orthopädie und Sportmedizin, durch eine multimodale Therapie zu erzielen sind.
Das bedeutet, dass nicht allein die Spritze oder Pille zu dauerhafter Beschwerdefreiheit und Schmerzlinderung führt, sondern dass Arzt und Patient an vielen Rädchen gemeinsam drehen. Dazu gehört der Einsatz der Physiotherapie bzw. Manuellen Medizin genauso wie eine Aktivierung des Patienten, sich aus der uns wohl allen bekannten Komfortzone zu bewegen, eine angepasste Ernährung und natürlich Hilfe aus dem Arztkoffer. Ich leite mittlerweile die Praxis für Integrative Orthopädie der ATOS Kliniken in Bochum. Hier werden meine Patienten nach einem multimodalen Konzept behandelt, indem ich das Wissen meiner ärztlichen Zusatzweiterbildungen einfließen lasse.
So lassen sich zum Beispiel chronische Nackenverspannungen über manualmedizinische Techniken, eine Haltungsschulung und Triggerpunktakupunkturen effektiv behandeln. Bei Sportverletzungen oder von Arthrose betroffenen Gelenken arbeite ich z.B. mit verschiedenen orthobiologischen Verfahren. Immer mit dem Anspruch: „Sanft regenerieren statt operieren“. Dafür isoliere ich körpereigene Wachstumsfaktoren und antientzündliche Botenstoffe aus dem Blut der Patienten, injiziere es aufbereitet in die geschädigte Muskulatur oder in degenerative Gelenke zurück und erreiche so Regeneration und deutliche Schmerzlinderung. Bei höhergradigen Befunden kann man die Wachstumsfaktoren auch mit speziellen Hyaluronsäurepräparaten oder körpereigenen Stammzellen aus dem Bauchfettgewebe anreichern. Moderne Medizin funktioniert über viele Ansätze und muss immer an den Befund der Patienten angepasst sein. Und ganz wichtig: Ich erkläre immer genau, warum ich Therapien vorschlage und bespreche die Ansätze gemeinsam mit meinen Patienten. Mit Motivation und dem Verständnis für das was zu tun ist, erreicht man einfach mehr.
Mit Orthopädie kommt so gut wie jeder Mensch im Laufe seines Lebens in Berührung. Nämlich immer dann, wenn die Gelenke und Muskeln schmerzen. Dies passiert auch gern im Wanderurlaub. Was sind die typischen orthopädischen „Urlaubskrankheiten“?
Puh, die Liste ist lang und klingt nicht nur schmerzhaft. Mir fallen da spontan Außenbandzerrungen oder Rupturen durch Umknicktraumata beim Wandern auf unebenem Gelände, Aktivierungen von Arthrose durch ein Ungleichgewicht aus Belastungsfähigkeit und tatsächlicher Belastbarkeit aber auch Schulterverletzungen durch Fahrradstürze, Kreuzbandrisse beim Skifahren und Entzündungen der Achillessehne durch ungeeignetes Schuhwerk ein. Und das ist nur ein kleiner Ausschnitt, weil ich jetzt keinem die Lust am Urlaub nehmen möchte.
Wie kann ich meinen Wanderurlaub im Vorfeld so gut vorbereiten, dass mir Schmerzen oder sogar Verletzungen erspart bleiben?
Wichtig ist der allgemeine Trainingszustand, durch eine gut trainierte Muskulatur. Dazu muss man auch seine Schwachstellen kennen und im Vorfeld bereits dort ansetzen, um die Belastbarkeit der Gelenke an sich zu steigern. Das geht durch ein gezieltes Aufbautraining, die richtige Lauftechnik aber z.B. auch durch Injektionen mit Hyaluronsäuren zur besseren Schmierung und Dämpfung der Knorpel. Auch Hybridgemische (Kombination aus Hyaluronsäure und körpereigenen Wachstumsfaktoren aus dem Patientenblut) können Aktivierungsprozesse wie Schmerzen und Gelenkschwellungen unter Belastung vorbeugen.
Frau Dr. Diessner, Sie kennen sich zudem mit dem Thema Ernährung sehr gut aus. Sollte ich meine Ernährung auch anpassen oder gibt es Nahrungsergänzungsmittel zum Vorbeugen? Im Urlaub haben die wenigsten Lust, auf gesunde Ernährung zu achten.
Definitiv, allerdings nicht (erst) im Urlaub. Eine effektive Ernährungsumstellung funktioniert nicht ad hoc wie einst die Kaugummiautomaten. Da hat man was eingeworfen und direkt etwas zurückbekommen. Natürlich kam da nichts raus, was zur gesunden Ernährung passt, aber das überrascht jetzt bestimmt nicht :). Unsere Ernährung umgibt uns den ganzen Tag. Das heißt, unser Körper hat das Futter für unseren Bewegungsapparat zur Verfügung, das wir ihm regelmäßig zuführen. Und das muss auch im Urlaub keineswegs langweilig oder einschränkend sein. Und klar geht dann mal die fixe Pommes vom Imbiss oder ein Gläschen mit ein paar Umdrehungen mehr als stilles Wasser sie uns bietet.
Unsere Ernährung muss unterm Strich passen. Sprich, isst man an 340 Tagen im Jahr ausgewogen, dann fallen die 3 Wochen Urlaub im wahrsten Sinne des Wortes nicht ins Gewicht und sind völlig ok.
Dr. Meike Diessner
Entscheidend ist unser Alltag: Wir können nämlich gegensteuern mit antientzündlichen Lebensmitteln, die unsere Knorpel regelrecht füttern und besonders hilfreich bei Arthrose und Rheuma wirken. So sichern wir die Statik unseres Körperbaus und erhalten uns die Balance. Natürliche und leckere Brandbekämpfer von chronischen Entzündungen in unserem Körper sind zum Beispiel Vitamin B2 (Grünkohl, Seelachs, Haferflocken), Vitamin C (Blaubeeren, Paprika, Brokkoli, Zitrusfrüchte), Selen (Cashewkerne, Kokosnuss, Pilze), Omega-3-Fettsäuren (Nüsse, Pflanzenöle & Saaten) und Bromelain (Ananas). In rotem, blauem und violettem Obst & Gemüse stecken Polyphenole (auch in Rohkakao und Traubensaft) und Carotinoide (Tomate, Karotte). Und wer’s scharf mag, tut mit Capsaicin aus Chilis, Cayennepfeffer und Co. etwas für eine gute Durchblutung und sorgt so für bessere Entspannung der Muskulatur und Schmerzlinderung. Also alles Lebensmittel, die man in wechselnden Kombis schnell und einfach über den Tag verteilt auf die Teller, ins Glas oder eine Bowl bekommt. Vor allem letztere gibt’s ja im Urlaub mittlerweile auch an vielen Ecken. Und nicht zuletzt ist eine Gewichtsreduktion ein Faktor, wenn die Gelenke überproportional belastet sind.
Buchtipp: Dr. Meike Diessner:- Natürlich schlank: Gesund abnehmen mit Clean Eating *
Gibt es Nahrungsergänzungsmittel zur Vorbeugung?
Nahrungsergänzungspräparate können bei bereits bestehenden Beschwerden „ergänzend(!)“ und temporär sinnvoll sein. Wichtig ist: Sie ersetzen eine ausgewogene Ernährung nicht. Es gibt aber Situationen, in denen es “ein bisschen mehr sein darf”: z.B. bei hoher sportlicher Belastung, der Einnahme bestimmter Medikamente, bei Rauchern oder bereits bestehenden Vorschädigungen. Dringend abraten möchte ich direkt von „Multi-Präparaten“, die von allem ein bisschen was in homöopathischer Dosierung enthalten. Unser Körper braucht keine Nahrungsergänzung von A-Z. Sinnvoll ist es, beim Doc zunächst eine Mikronährstoffanalyse aus dem Blut durchführen zu lassen, um zu sehen, wie die Ausgangssituation ist. Eine Ergänzung von Vitamin D kann vor allem im Winter, während der dunklen Jahreszeit, sinnvoll sein, wenn ein Mangel festgestellt wird. Der Einsatz von Chondroitin- und Glucosaminsulfat, die den noch vorhandenen Gelenkknorpel kräftigen und die körpereigene Hyaluronsäureproduktion ankurbeln, ist ebenfalls häufig sinnvoll. Auch Kurkuma-Präparate helfen vielen Patienten, ein beschwerdefreieres Leben zu führen. Das ermöglichen die antientzündlichen Eigenschaften des enthaltenen Kurkumins. In “Gelenke im Glück” gibt’s noch mehr Tipps und Kräuter-Geheimwaffen für starke Knorpel.
Wie kann ich meine Spazier- oder Wandertouren so aussuchen, dass ich sie schaffen kann?
In dem wir wieder ein Gefühl für unseren Körper entwickeln und unsere Leistungsfähigkeit einschätzen lernen. In der Ernährungsmedizin spreche ich immer von einer “Lebensmittel-Sensibilität”. Das bedeutet, dass der Mensch ein Gefühl dafür entwickelt, welchen Effekt bestimmte Nahrungsmittel auf den eigenen Körper haben. Gleiches gilt für die körperliche Belastbarkeit. Immer hilfreich: Entspannt starten und dann steigern, bis man an seine Leistungsgrenze kommt. Wer direkt ans Äußerste oder darüber hinaus geht, riskiert Verletzungen oder Überreaktionen des Körpers, der keine Chance hatte, sich an die ungewohnte Belastung zu gewöhnen.
In welchen Fällen sollte ich auf einen aktiven Wanderurlaub verzichten?
Vor allem bei aktuellen bestehenden akuten Erkrankungen. Bei Rheumapatienten oder Menschen, die von Gicht betroffen sind, wäre dass z. B. ein akuter Schub. Besteht ein symptomatischer Bandscheibenvorfall oder zu dem Zeitpunkt eine schmerzhafte aktivierte Arthrose, die mit Schwellungen und Überwärmung einhergeht und mit konservativen Maßnahmen kurzfristig nicht beherrschbar ist, würde ich empfehlen, aufs nächste Jahr umzubuchen und mal einen ganz entspannten Urlaub einzulegen.
Können Sie Hausmittel für die Reiseapotheke empfehlen, die mir im Akutfall helfen, damit ich am nächsten Tag wieder fit bin?
Da greifen wir mal zurück auf Omas und Opas Wundermittel: Kohlwickel, Quarkauflagen, Retterspitz und Zinkleimverbände können einiges bewirken. Sie sind schnell und einfach selbst angewendet. Generell können wir Schmerzen wunderbar “am Wickel” packen, wenn man weiß in welcher Situation sich der entsprechende Wickel eignet. Was auch nicht schaden kann, ist Ibuprofen auf Verdacht dabei zu haben. Im Ernstfall nimmt es Schmerzen und wirkt gleichzeitig abschwellend und antientzündlich. Aber auch hier gilt: Nicht einfach so einwerfen, als wären es langweilig schmeckende Smarties.
Was ist besser für die Gelenke: bergauf oder bergab?
Auch wenn es den ein oder anderen überraschen dürfte:
Bergaufgehen ist zwar anstrengender, schont unsere Gelenke aber mehr.
Dr. Meike Diessner
Beim Bergablaufen müssen wir mehr stabilisieren und die kleinen Erschütterungen beim ständigen Abstoppen können zu winzigsten Einrissen der Muskulatur führen, die sich dann am nächsten Tag als Muskelkater bemerkbar machen.
Ist es sinnvoll, die Gelenke durch Bandagen oder Schmerzmittel vorbeugend zu schützen? Sollte ich mich „bei Schmerzen nicht so anstellen“ oder tatsächlich Pause machen?
Schmerzmittel sollten nicht vorbeugend genommen werden, da auch profan klingende Pillen wie Ibuprofen oder Paracetamol die für wenige Euros freiverkäuflich in der Apotheke erhältlich sind Risiken und Nebenwirkungen haben. Das Feld der Schmerzmittel ist sowieso so groß und teils unübersichtlich, dass ich in meinem Buch im Kapitel “Letzter Wille eine Pille!?” die ganzen “Helferlein” mal genauer unter die Lupe nehme: speziell auch die häufig weniger bekannten Nebenwirkungen. Es gibt unterschiedliche Wirkweisen, manche Medikamente – nichts anderes sind Schmerzmittel, Medikamente! – wirken wie Ibuprofen oder Diclophenac nicht nur schmerzlindernd, sondern auch entzündungshemmend. Andere wie Paracetamol oder Metamizol kaschieren wiederum nur oberflächlich den Schmerz.
Auch bei Bandagen gilt es aufzupassen. Nur weil ich eine gewisse Kompression auf mein Gelenk damit ausübe, heißt das nicht, dass ich es in der Folge falsch oder viel zu sehr belasten darf. Auch der stabilisierende Effekt von Bandagen wird häufig überschätzt. Eine Bandage schränkt den Bewegungsradius nämlich nicht ein, weshalb sie auch so beliebt sind. Das heißt aber auch, sie schützen nicht präventiv vor Überstreckung und Verdrehtraumata und können bei anfälligen Gelenken auch ein falsches Gefühl der Sicherheit vermitteln. Will man Stabilität erreichen, eignen sich zum Beispiel Orthesen.
Ihr neues Buch heißt „Gelenke im Glück“ und erscheint Anfang April im GU Verlag. Wenn Sie es zusammenfassen müssten in einen ultimativen Tipp für einen glücklichen Körper – welcher ist das?
Hört auf die Signale eures Körpers, informiert euch, bleibt in Bewegung und gebt nicht auf!
Dr. Meike Diessner
Bevor das Skalpell poliert und die Messer gewetzt werden, sollten ALLE konservativ zur Verfügung stehenden Hilfen aus dem Arztkoffer ausgeschöpft werden. Ganz viele OPs können wir durch unser Verhalten und den Einsatz einer multimodalen Therapie vermeiden.
Kommen wir zum Thema Ausrüstung. Hilft es den Gelenken, mit Wanderstöcken zu laufen?
Wenn Wanderstöcke richtig auf die Größe der Person eingestellt sind, können sie Gelenke und auch unsere Muskulatur entlasten. Doch aufgepasst: nicht ständig zu Hilfsmitteln greifen. Gehen wir auf einfachen und flachen Strecken, können wir die Stöcke besser daheim lassen, denn der übermäßige Einsatz kann die körpereigene Balance und Koordination negativ beeinflussen. Wir verlieren quasi den eigenen Gleichgewichtssinn und das Zusammenspiel verschiedener Muskelgruppen. Beides ist speziell bei Wanderungen im bergigen Gelände so wichtig.
Welche Rolle spielt gutes Schuhwerk für eine erfolgreiche Wanderung?
Gutsitzende Treter sind unverzichtbar für eine erfolgreiche Wanderung und glückliche Gelenke. Schuhe deshalb am besten immer nachmittags kaufen, denn unsere Füße schwellen im Laufe des Tages unter Belastung an.
Und ich geh noch einen Schritt weiter: Der beste Schuh wird durch die passende Einlage zur perfekten Unterstützung. Sensomotorische Einlagen zum Beispiel können helfen, die gesamte Körperstatik zu optimieren, Schmerzen und Fehlstellungen vorzubeugen oder vorhandene zu lösen. In meinem neuen Buch widme ich den hochmodernen Einlagen, die auf der Basis von Bewegungsanalysen hergestellt werden, auch ein eigenes Kapitel. So richtig beliebt sind klassische Einlagen leider nämlich nicht, weil viele an die 08/15-Dinger denken, bei denen der Patient einmal in einen mit Schaumstoff gefüllten Schuhkarton stapft. Sensomotorische Einlagen werden dagegen nicht aufgrund statischer Daten wie Abdrücken im Stand erstellt, sondern auf Basis von “bewegten Daten”, die ein reales Gangbild des Patienten abbilden.
Quick Answers
- Berge oder Meer? Meer
- Lieber bergauf oder bergab laufen? Es geht immer aufwärts :))
- Wandern, radeln oder skifahren in den Bergen? Radeln
- Einsame Berghütte oder Partymeile? Einsame Berghütte mit meinen Hunden
- Downhill mit dem Mountainbike oder Fernradweg? Rennradstrecke ;-))
- Bergbahn oder laufen? Laufen
Über Dr. Meike Diessner
Dr. med. Meike Diessner ist in Mülheim an der Ruhr geboren und aufgewachsen. Sie absolvierte ihr Studium an der Medizinischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum (RUB). Ihre Approbation erlangte sie 2011. Nach ihrer Facharztprüfung im Januar 2018 erfolgte die Gründung der „Praxis für Integrative Orthopädie“, welche zu den renommierten ATOS Kliniken gehört.
Tipp: Dr. Diessners Instagram-Account (docdiessner)
Buchtipp für gesunde Gelenke
Buch : 240 Seiten, Hardcover
Sprache: deutsch – Maße: 17.5 × 24 cm
ISBN-10: 3833882107 / ISBN-13: 978-3-8338-8210-4
Preis (D): 24 €
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